Leseproben |
Wer nie eine Gehirnblutung hatte oder zumindest jemanden kennt, dem das passiert ist, kann sich keinen Begriff davon machen. Das komplette Leben bricht zusammen, existiert nicht mehr… Ich lag im Koma! Mein Kopf war mit diversen Schläuchen verbunden, weil das Blut, das sich aufgestaut hatte, abfließen musste. Außerdem wurde ich künstlich ernährt und beatmet… Der erste Tag, an den ich mich wieder erinnere, ist der 26. Januar 2004. Obwohl ich in der Zeit davor wach und ansprechbar war. Alles, was dazwischen liegt, ist wie ausgelöscht. Ein merkwürdiges Gefühl, wenn einem ein Teil des eigenen Lebens fehlt. Aber auch in dieser Zeit hat Adelbert weiter für mich Tagebuch geführt… Die OP wurde dann vom Chefarzt durchgeführt und dauerte sehr lange. Er hat fast sieben Stunden an meinem Gehirn gearbeitet. Ein kleiner Teil der Ader konnte nicht mit entfernt werden, da er sich zu nah am Sprachzentrum befindet und die Gefahr einer Schädigung zu groß war… Und zum ersten Mal stellte ich wirklich fest, dass ich nicht mehr lesen konnte. Und das löste erst richtig Panik aus! Außerdem war ich völlig orientierungslos. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie ich zum Beispiel in den Speisesaal kommen sollte oder zu den einzelnen Therapieräumen. Aber wer sagt schon gerne, dass er nicht lesen kann?... Ich konnte zum Beispiel auch die Uhr nicht mehr lesen. Wusste also auch nie, wie spät es war. Der Versuch einer Therapeutin, es mir beizubringen, gestaltete sich als schwierig, weil ich ja generell große Probleme mit Zahlen hatte. Auch das machte mich unendlich traurig. Ich habe immer Uhren geliebt und besitze auch sehr viele. Zum Glück kam diese Fähigkeit später zu Hause wie von selbst zurück. Ich kaufte mir zur Belohnung dann auch eine schöne, neue Uhr… Ich kannte auch die Bezeichnung von Farben nicht mehr. Was ist blau und was ist rot? Meine Therapeutin hatte Bilder dabei, wo ich beschreiben sollte, was ich sehe. Ein Bild mit einer Frau, die auf einem Stuhl sitzt und strickt. Wenn einem weder das Wort „Frau“ noch das Wort „Stuhl“ und schon gar nicht das Wort „stricken“ einfällt - das ist Horror… In der Zeit, als ich auch die Therapeutin zur Hilfe bekam, erkannte ich so langsam tatsächlich das Ausmaß der Probleme und hatte große Angst davor, dass es nie wieder so werden würde wie vorher… Eines Tages schimpfte Adelbert mal wieder vor sich hin und irgendwie auch mit mir und plötzlich fing ich nicht nur zu weinen an, sondern bekam meinen ersten epileptischen Anfall. Ich konnte nicht mehr sprechen und zuckte am ganzen Körper… Der Anfall hatte mit der Gehirnblutung und der Operation zu tun, die eine Vernarbung des Gehirns bedingt hat. Und die kann in extremen Situationen, wie zum Beispiel Lärm, Stress oder Angst, epileptische Anfälle auslösen… Irgendwie waren mir in dieser Zeit die Toten näher als die Lebenden. Aber anstatt mich zu freuen, dass ich noch am Leben war, dachte ich immer, immer wieder: Warum ich? Warum hat es mich getroffen?... Ich fing an, schon im Juni 2004 wieder in der Bank zu arbeiten. Ich werde diesen ersten Tag nie vergessen. Die Arbeitsstunde begann gegen 10 Uhr. Meine Kollegen schauten mich fast erschrocken an. Ach ja, Nadja ist jetzt auch wieder da. Aber wohin mit ihr? Das sagte zwar keiner, aber die Gesichter sprachen Bände! Eine meiner Kolleginnen arbeitete gerade im Nebenraum am Computer und dort durfte ich mich noch dazusetzen. Immerhin ein Sitzplatz!... Der größte Teil meiner PC-Kenntnisse war nämlich, wie ich sehr schnell merkte, meiner Gehirnblutung zum Opfer gefallen. Ich wusste nur noch von wenigen Tasten, wofür sie da waren. Aber welche Taste man benutzen sollte, um Geld zu überweisen oder wie man den Tagesstand bestimmter Aktien finden konnte, wie man am PC ein Konto eröffnete und vieles, vieles mehr, - all das war aus meinem Kopf verschwunden. Ganz alltägliche Schritte hatte ich vergessen. Wenn mir jemand mal etwas zeigte, hatte ich es genauso schnell wieder vergessen. Ich versuchte, mir die wichtigsten Dinge aufzuschreiben. Bald lagen immer mehr Zettel um mich herum. Aber welcher Zettel war wann der Richtige?... Ich kam insgesamt nicht damit zurecht, was passiert war und wie mein Leben jetzt aussah. Trauer war mein ständiger Begleiter und ich weinte täglich... Mein Arzt setzte nun alle Hebel in Bewegung, einen guten Psychotherapeuten für mich zu finden. Und das möglichst schnell. Aber auch hier zeigte sich wieder, wie ausgebucht die Therapeuten heutzutage sind... Und so ging ich also ab November 2004 regelmäßig zu meinem neuen Therapeuten. Und ich begann, zwar langsam, aber Stück für Stück, meine Lage zu akzeptieren und mein Leben neu aufzubauen… Was macht mein Leben heute aus? Es gibt Tage, da stelle ich mir diese Frage dauernd. Da hadere ich mit mir selbst und meinem Schicksal. Dann versuche ich, ein Buch zu lesen und kann dem Text einfach nicht folgen. Weil ich unendlich lange brauche, um die Worte zusammenzusetzen und sie dann gleich wieder vergessen habe. Oder weil ich mir einfach nicht merken kann, wer die einzelnen Personen in einem Buch sind, weil Namen noch immer Schall und Rauch für mich sind. Ich spreche zum Beispiel manchmal von „Heinz“, obwohl ich eigentlich „Klaus“ meine - und merke es noch nicht einmal… Dann schaue ich zigmal in meinen Kalender, um nachzusehen, wohin ich an dem Tag noch sollte. Was erledigt werden muss oder wer Geburtstag hat. Oder welchen Tag oder welches Jahr wir überhaupt haben… Sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben spuckt mein Gehirn oftmals nur artverwandte Wörter aus. Ohne dass ich es merke. Zum Beispiel das Wort „Schiff“ statt „Auto“. Oder ich möchte sagen, dass ich die Waschmaschine anschalten will, sage aber statt dessen „Geschirrspüler“. Das Gehirn macht das einfach ganz automatisch… Aber ich kann auch wieder über mich selbst lachen. Wenn ich zum Beispiel einmal zu Adelbert gesagt habe, dass ich zum Essen Waffeln im Briefkasten backen will, dann erscheint mir dies heute als lustig. Oder wenn ich den Namen vom Kfz-Mechaniker mit dem vertausche, der für die Fernsehreparatur zuständig ist. Ich lache über einen Fernseher auf Rädern und über gebackene Briefe… |